Homosexualität und psychoanalytische Ausbildung an der Akademie

Noch bis in die 1990er Jahre Jahren betrachteten psychoanalytische Institutionen und Fachgesellschaften Homosexualität als Ausdruck bzw. Symptom einer pathologischen Entwicklung der Geschlechtsidentität.

Diese Haltung führte – auch an der Akademie – zu einer grundsätzlichen Ablehnung von schwulen und lesbischen Bewerber*innen, was bedeutete, dass diese ihre Homosexualität verheimlichen mussten. Dieser Umstand überschattete nicht nur die Aus- bzw. Weiterbildung, sondern oft auch das weitere Berufsleben der Bewerber*innen.

 

Freud hatte bereits 1905 einen sehr klaren Standpunkt eingenommen:

 

"Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen." (Freud 1905: 44, Anm. 1)

 

Auch vertrat er die Ansicht

 

"dass Homosexuelle nicht unbedingt psychisch labiler seien als Heterosexuelle, dass Homosexuelle in der Tat als Analytiker dienen könnten und dass es so wenig Aussicht auf die Konversion Homosexueller zur Heterosexualität gebe wie das Gegenteil." (zit nach Herzog 2015: 417)

 

und widersprach am 11.12.1921 gemeinsam mit Rank (der den Brief mit zeichnete) Ernest Jones, der einem homosexuellen Arzt die Zulassung zur psychoanalytischen Ausbildung verweigerte:

 

"Deine Anfrage (…) Ernest wegen event. Mitgliedschaft Homosexueller möchten wir nicht in Deinem Sinne beantworten, d.h. wir möchten solche Personen nicht grundsätzlich ausschliessen, da wir ja auch ihre gerichtliche Verfolgung nicht billigen können. Wir meinen die Entscheidung in solchen Fällen sollte einer individuellen Prüfung der sonstigen Qualitäten vorbehalten bleiben."

 
(zit. aus dem mir als Bilddatei vorliegenden Originalbrief in Durchschrift aus dem Briefwechsel der Komiteemitglieder der IPV; dieser befindet sich in der Otto Rank Collection (IIa/238-254) in der Rare Book und Manuscript Library der Columbia University Libraries, New York; U. Rauschfleisch hat den Briefwechsel zu diesem Thema sehr detailliert und genau wiedergegeben: Rauchfleisch 1993: 339f)

 

Und noch 1935 zeugt ein Brief an die besorgte Mutter eines homosexuellen Sohnes von seiner offenen und liberalen Haltung (Freud 1951: 786-787 und Freud 1968: 439).

 

Nicht alle Äußerungen Freuds waren allerdings so eindeutig. Seine Beiträge zur Sexualtheorie enthielten unklare Formulierungen im Hinblick auf der Homosexualität.

 

"Er betrachtete Homosexualität als Ergebnis einer spezifischen psychosexuellen Entwicklung, blieb jedoch unbestimmt in Bezug auf deren Krankheitswert. Strukturell betrachtete er sie als einen der möglichen Lösungsversuche ödipaler Konflikte und damit als gleichwertig mit der Heterosexualität, funktional aber sah er sie als eine "Abweichung" auf der Basis der "Arretierung" (Hemmung) eines ungelösten Ödipuskomplexes an, was man nur als Pathologie verstehen kann, auch wenn er gelegentlich von gesunden Homosexuellen sprach, ihre besondere Leistungsfähigkeit und Intelligenz betonte und sich öffentlich gegen ihre Diskriminierung wandte." (Ermann 2017: 101)

 

Im Zuge der Institutionalisierung der Psychoanalyse nahmen die ideologische Einengung und – damit einhergehend – auch die Pathologisierung der Homosexualität unter seinen Anhängern zu und verdichtete sich in der Ablehnung lesbischer und schwuler Menschen, die sich für die Aus- bzw. Weiterbildung zur/m Psychoanalytiker*in bewarben.

1973 strich die die American Psychiatric Association (APA) Homosexualität als psychische Krankheit eo ipso aus dem DSM-II, dennoch blieb sie und als "sexuelle Orientierungsstörung" im DSM-II und später als "ich-dystone Homosexualität" im DSM-III erhalten.

Erst 1991 verabschiedete die American Psychoanalytic Association (APsaA) als erste psychoanalytische Fachgesellschaft – und nach heftigen Kontroversen – eine Antidiskriminierungsklausel. Diese untersagte, die Ablehnung von Bewerber*innen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung (de.wikipedia.org/wiki/Homosexualität). 2002 folgte die International Psychoanalytic Association (IPA) mit einer entsprechenden Stellungnahme.

 

1992 kritisierte Johannes Cremerius die "Pathologisierung der Homosexualität und der daraus abgeleiteten Folgerung, Homosexuelle nicht zur psychoanalytischen Ausbildung zuzulassen", als einen der wesentlichen Gründe für die Krise der Psychoanalyse bzw. den Verlust "der sozialen Funktion der Psychoanalyse in der IPV". (Cremerius 1992: 64ff)

Dennoch blieb die Situation für Lesben und Schwule, die sich für die psychoanalytische Ausbildung interessierten, auch in den folgenden Jahren unübersichtlich und mit einer Reihe von Fragen und Unsicherheiten belastet, so etwa im Hinblick darauf,

 

  • inwieweit das Ansprechen der Homosexualität zu Vorbehalten gegen Bewerber*innen und – dann möglicherweise unausgesprochen – zu einer Ablehnung führt,
  • ob die Herausnahme pathologisierender Passagen aus psychoanalytischen Lehrbüchern Ausdruck einer veränderten Haltung der Verfasser*innen oder lediglich das Zugeständnis an einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel und die daraus resultierende Veränderung (z. B. in der Rechtsprechung) darstellt und
  • ob die Pathologisierung nur sang- und klanglos verschwand, ohne dass unzutreffende oder falsche theoretische Annahmen explizit korrigiert und durch neue Erkenntnisse, Theorien und Konzepte ergänzt worden wären.

 

Bei einer Umfrage der »Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule im Gesundheitswesen — Ärzte und Therapeuten« zum Thema: "Müssen homosexuelle Bewerber grundsätzlich mit einer Ablehnung rechnen?" befragte die dortige Arbeitsgruppe Psychoanalyse im November 1982 die 26 Ausbildungsinstitute in der Bundesrepublik. Aus München (von der Akademie) kam folgende Antwort:

 

"Ausschlaggebend für die Entscheidung ist, (…) »ob die für einen anayltischen [Schreibfehler i. Orig.] Psychotherapeuten unerläßlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten voraussichtlich während der Weiterbildung entwickelt und erworben werden können, ob pathologisch verlaufende Entwicklungen in dem für den Beruf des Psychotherapeuten notwendigen Umfang reversibel sind und spätere, den Patienten schädigende Rückfälle voraussichtlich dauernd ausgeschlossen werden können« (München-Akademie)." (Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule im Gesundheitswesen 1985: 559)

 

In der Akademie wurde der erste homosexuelle Bewerber (der sich bei Bewerbung offenbart hatte) im Sommersemester 1990 unter dem damaligen Aus- und Weiterbildungsleiter ETH, Wolfgang Mertens, zugelassen. Der bis dahin geltende Vorbehalt wurde mit 2: 1 Stimmen aufgehoben. In der Folge wurde eine Reihe von bekanntermaßen homosexuellen Kolleg*innen zur Aus-/Weiterbildung zugelassen.

 

1993 berichtete Udo Rauchfleisch in der Fachzeitschrift Forum der Psychoanalyse, dass von 41 angeschriebenen, davon 34 antwortenden, deutschsprachigen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten fünf Institute lesbische und schwule Kandidat*innen aufnahmen und zwei Institute Kritik an der traditionellen restriktiven Aufnahmepraxis übten. Hingegen lehnte ein Institut dezidiert homosexuelle Bewerber*innen ab, weitere sechs nahmen offenbar lesbische und schwule Kandidat*innen nicht auf und an den übrigen Instituten herrschte eine ambivalente Haltung im Sinne eines "Ja, aber …" (Rauchfleisch 1993).

Die Akademie befand sich unter den befragten Instituten und unter jenen fünf Instituten, die lesbische und schwule Kandidat*innen aufnahmen (ebd.: 343, 344).

 

Bei der 60-Jahr-Feier der Akademie 2006 hielt Michael Ermann (Lehranalytiker, damaliger Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik an der Psychiatrischen Klinik der LMU und früherer Vorsitzender der DPG) einen Vortrag, in dem er sich offen zu seiner Homosexualität bekannte. [Michael Ermann hat sich mir gegenüber freundlicherweise bereiterklärt, eine Kurzfassung des Vortrags anzufertigen und diesen hier zur Verfügung zu stellen].

 

Diese Entwicklungen in der Psychoanalyse und in der Akademie sind sehr zu begrüßen. Zugleich erscheint es wichtig, dass hetero-, homo- und transsexuelle Kollegen*innen sich verstärkt mit diesen Themen der Sexualität beschäftigen – im Rahmen von Fall- und Theorieseminaren, Diskussionsveranstaltungen und Foren ebenso wie in Vorträgen und Veröffentlichungen. Nur auf diese Weise wird es möglich sein, dass sich bewusste, vor- und unbewusste Vorbehalte, Vorurteile, Ängste und daraus resultierende Projektionen verändern und die Psychoanalyse auch auf diesem Gebiet ihrer aufklärerisch-emanzipatorischen Haltung gerecht wird.

Anders als etwa in den USA wurden im deutschsprachigen Raum bislang nur wenige neuere Arbeiten über die homosexuelle Entwicklung und spezielle Übertragungskonstellationen publiziert oder in Vorträgen zum Thema gemacht (vgl. Stakelbeck & Frank 2006). Auch deshalb möchte ich auf eine aktuelle Arbeit eines Kollegen der Akademie hinweisen:

 

Schon, L. (2016): Homophobie und Heterophobie – Schwierigkeiten unterschiedlicher psychosexueller Konstellationen des analytischen Paars. Journal für Psychoanalyse. Ausgabe 57, 2016: 66-81

 

Der Beitrag ist online verfügbar: www.psychoanalyse-journal.ch/article/view/jfp.57.5/261. Das gilt auch für die anderen Beiträge des Schwerpunktheftes des schweizerischen Journals für Psychoanalyse (Psychoanalytisches Seminar Zürich) zum Thema:

 

"(K)ein Grund zur Homosexualität: Ein Plädoyer zum Verzicht auf psychogenetische Erklärungsversuche von homosexuellen, heterosexuellen und anderen Orientierungen."

 

Ermann und Stakelbeck haben weitere aktuelle Arbeiten im Forum der Psychoanalyse (2017, Heft 1) vorgelegt:

 

Ermann, M. (2017): Männliche Homosexuelle in der psychoanalytischen Ausbildung. Die Institution, der Kandidat und seine Patient(inn)en.

Stakelbeck, F. (2017): Ausgeschlagenes Erbe. Der vollständige Ödipuskomplex und das Homosexualitätstabu

 

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Dr. phil. Dipl.-Psych. Lothar Schon (Jahrgang 1963) ist am 26.03.2017 mit 53 Jahren unvermittelt aus dem Leben gerissen worden – kurz nach Fertigstellung dieses Beitrags – über den ich auch mehrfach mit ihm gesprochen habe.


Er hat sich in vielfältiger Weise und mit großem Einsatz in und außerhalb der Akademie für die Psychoanalyse engagiert. Überregional wurde er auch als Autor bekannt, so u. a. mit seinem Klassiker über die frühe Triangulierung (Kohlhammer 1995: Entwicklung des Beziehungsdreiecks Vater-Mutter-Kind) und dem 2002 bei Klett-Cotta erschienenen Buch: Sehnsucht nach dem Vater (2. Aufl. 2010).

Viele von uns/Ihnen haben Lothar Schon mit seinem jugendlich-heiteren Charme, seiner aufgeschlossenen, umsichtigen, freundlichen und zugewandten Art als Kollegen und Freund kennen und schätzen gelernt. Mit seiner fachlichen Kompetenz (etwa in seinen Funktionen als Dozent, Supervisor, Lehranalytiker und Aus- und Weiterbildungsleiter ETH) insbesondere aber auch mit seinen ausgeprägten dialogischen und integrativen Fähigkeiten hinterläßt er eine ebenso große wie schmerzliche Lücke in der Akademie.

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